HT 2021: Getäuschte Erinnerung: Innerjüdische Deutungskämpfe über die „Vorgeschichte“ des Holocaust nach 1945

HT 2021: Getäuschte Erinnerung: Innerjüdische Deutungskämpfe über die „Vorgeschichte“ des Holocaust nach 1945

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
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Von
Victor Ugorets, Humboldt-Universität zu Berlin

„Was ist richtiges und was ist falsches Handeln? Hatte man der Bedrohung angemessen gehandelt? Und hätte man durch anderes Handeln mehr Menschen retten können?“ fragte die Sektionsleitung STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM (Berlin) in ihren einleitenden Worten zur Fachsektion „Getäuschte Erinnerung: Innerjüdische Deutungskämpfe über die ‚Vorgeschichte‘ des Holocaust nach 1945“. Diese Fragen fassen sehr treffend den Kern der Fachsektion zusammen. Denn das Podium von „Getäuschte Erinnerung“ befasste sich mit den innerjüdischen Deutungskämpfen über die Zeit nationalsozialistischer Verfolgung in verschiedenen jüdischen Gemeinschaften nach dem Holocaust am Beispiel von Deutschland, Jugoslawien und Rumänien.

Im Zentrum der Fachsektion stand dabei die Frage, wie das Wissen um den Holocaust im Nachhinein den Blick auf seine Vorgeschichte geprägt und verändert hat. Ausgangspunkt der Untersuchung war dabei die These, dass bestimmte Wahrnehmungen, Fragestellungen und Probleme, die sich erst aus den Erfahrungen des Holocausts heraus entwickelten, rückblickend auf seine Vorgeschichte projiziert wurden. In dieser Konstellationvschienen alle jüdischen Aktivitäten (ganz gleich ob politischer oder privater Natur) in der Zwischenkriegszeit, unweigerlich mit der späteren Erfahrung des Holocaust verbunden zu sein. Verschiedene jüdische Gemeinschaften sahen sich des Öfteren dem Vorwurf ausgesetzt, auf den Holocaust nicht richtig und rechtzeitig reagiert zu haben, so als hätten sie es vorhersehen müssen. Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft ergab sich daraus ein wichtiger Impuls zur Beleuchtung der Frage, ob eine Teleologie auf den Holocaust gerechtfertigt ist. Diesem Impuls ging die Fachsektion in geographisch und methodisch breit gefächerten Studien nach, welche die jeweiligen Erklärungsansätze für die Erfahrung des Holocaust und die unterschiedlichen Verarbeitungsmechanismen untersuchten, die an vielen Orten zu heftigen innerjüdischen Deutungskämpfen führten und schließlich in unterschiedlichsten innerjüdischen Deutungen der „Vorgeschichte des Holocaust“ ihren Ausdruck fand. Das Panel bot nicht nur eine historische, sondern auch eine kritische historiographische Analyse, womit es beabsichtigte, der derzeitigen Forschungsdiskussion über jüdische Handlungsoptionen in den Krisenzeiten des 20. Jahrhunderts neue Impulse zu geben.

In ihrem Beitrag „Analysen aus dem Exil – Deutsche Juden und der erklärende Blick ‚zurück’“ richteten ANNA ULLRICH (München) und DAVID JÜNGER (Brighton/Berlin) den Blick auf Deutschland. An Beispielen ehemaliger Führungspersonen des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“ (CV) zeigten sie auf, dass Emigration lediglich eine der Handlungsoptionen im Umgang mit dem Nationalsozialismus darstellte, welche in jüdischen Kreisen intensiv diskutiert, jedoch von den Zeitgenossen bei weitem nicht als die einzige oder die bevorzugte Option wahrgenommen wurde. Zum Beispiel erfuhr man aus einem Tagebuch der Breslauer Familie zionistischer Aktivisten Cohn aus dem Jahr 1937, dass sie „nicht ihr ganzes Leben hier [in Palästina] unglücklich werden möchten.“ Post festum sahen sich jedoch viele der im Beitrag behandelten Protagonisten zu einer Rechtfertigung gedrängt, warum sie „viel länger gebraucht haben, um zu erkennen, dass alles verloren war“ (Friedrich Brodnitz). Bereits kurz nach Kriegsende im Jahr 1945 erschienen erste Veröffentlichungen, die dem CV kardinale Fehler vorwarfen. Sehr prominent war ein Beitrag von Albert Einstein, in dem er dem CV vorwarf, die deutsche Judenheit „zersetzt“ zu haben, worauf Anna Ullrich und David Jünger ein ehemaliges Vorstandsmitglied des CV, Max Mainzer, zitierten, der anmerkte, dass die Mitglieder des CV sich während der Nazijahre mit großem Einsatz und persönlichem Risiko (was in vielen Fällen die Akteure selbst und ihre Familien das Leben kostete) für die deutschen Juden, vor allem auf dem Land, engagierten. Anna Ullrich und David Jünger resümierten, dass „in der historischen Rückschau an die jüdischen Führungspersonen der 1930er-Jahre Fragen von Schuld, Verantwortung und Moral herangetragen wurden.“ Das Ziel ihres Sektionsbeitrags sei damit jedoch nicht ein Versuch „den Holocaust historisch derart einzuordnen, dass er als ein Ereignis unter vielen zu begreifen“ sei, sondern darauf hinzuweisen, dass „die sich auf Auschwitz konzentrierende Historiographie die Ereignisse der 1930er- und 1940er-Jahre auf eine Weise aneinanderbindet, die sich nicht unbedingt mit dem Erleben der Zeitzeuginnen in jenen Jahren deckt“, was ihnen durch das vorgestellte Quellenmaterial auch überzeugend gelungen ist.

Der Beitrag von GAËLLE FISHER (München) mit dem Titel „Vertrieben aus dem Paradies – Überlebende aus der Bukowina und die Erinnerung an die ‚verlorene‘ rumänische Heimat nach 1945“ behandelte die Juden aus der Bukowina. Zum einen stellen die rumänischen Juden bzw. spezifisch die Gruppe der Juden aus der Bukowina eine besondere Schicksalsgemeinschaft dar, da sie Opfer des sogenannten „rumänischen Holocaust“ wurden, worunter man „ein Set an genozidalen Maßnahmen und Taten, die durch den rumänischen Staat im Rahmen seines Bündnisses mit dem nationalsozialistischen Deutschland umgesetzt und durchgeführt wurden“ versteht. Bukowinische Juden stellten durch ihre Erfahrungen „sowohl im Vergleich mit anderen europäischen Gemeinden als auch mit Juden aus anderen Teilen Rumäniens, eine distinkte Erfahrungsgemeinschaft“ dar, so Gaёlle Fisher. Als eine solche Erfahrungsgemeinschaft hätten sie im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg Phasen der Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte durchlebt, welche stark von den politischen Umständen, den Prioritäten ihrer Eliten und verschiedenen Kontexten geprägt gewesen sei: Anfang der kommunistischen Diktatur, darauffolgende Massenauswanderung nach Israel, wo ein Bedürfnis nach Integration des eigenen regionalen Narrativs in das zionistische und das israelische Narrativ manifest wurde. Darüber hinaus beeinflusste die hegemoniale Holocausterinnerung die Selbstwahrnehmung der bukowinischen Juden. Gaёlle Fisher arbeitete in ihrem Beitrag heraus, wie sich in diesen unterschiedlichen Phasen auch die Erzählung der Gruppe über sich selbst und den Holocaust veränderte: von der Auseinandersetzung mit den regionalen Geschehnissen, über das Abrücken von Opfernarrativen und Erfahrungen der Verfolgung, das Ablegen der „Diasporamentalität“ (ganz dem israelischen zeitgenössischen Meisternarrativ entsprechend) bis hin zur Herausbildung einer dezidiert regionalen, bukowinischen Holocausterzählung in Abgrenzung zu anderen Israelis, Holocaustüberlebenden aus anderen Ländern und schließlich zu rumänischen Juden aus anderen Landesteilen. Dabei seien durch die hegemoniale Holocausterzählung sogar die ursprünglichen Erfahrungen mit der Kollaboration der lokalen Bevölkerung aus der kollektiven Erinnerung verschwunden, weswegen von der Herausbildung eines Narrativs gesprochen werden könne, welches besage, dass Juden in der Bukowina von heute auf morgen tatsächlich „aus dem Paradies vertrieben“ worden seien. „So erübrigte sich auch eine nähere Betrachtung der eigenen Handlungsmacht und Handlungspielräume“, so Gaёlle Fisher.

In dem Beitrag von MARIJA VULESICA (Berlin) mit dem Titel „Von Opfern und Helden – Jugoslawische Juden und ihr Umgang mit dem Holocaust“ behandelte die Autorin die Deutungsleistung der Holocaustüberlebenden aus Jugoslawien. Direkt nach der Befreiung Belgrads öffnete die Jüdische Gemeinde ihre Tore im Zeichen der (vermeintlichen) Kontinuität mit der gleichnamigen Organisation aus der Vorkriegszeit. Laut Marija Vulesica haben die zionistischen Aktivitäten aus der Vorkriegszeit zwar der Grundstein für das spätere Narrativ der jugoslawischen Juden gelegt, doch von der politischen und ideellen Ausrichtung her gäbe es große Unterschiede zwischen der Vorkriegsgemeinde und der, je nach Interpretation, neu- oder wiedereröffneten Gemeinde im Jahr 1944. Die ideelle Wende hin zur Nachkriegsidentität als „Jude“ in Jugoslawien geschah in den Köpfen der späteren führenden Personen der jüdischen Gemeinde bereits während des Krieges, in den Kriegsgefangenenlagern. Bei vielen jugoslawisch-jüdischen Häftlingen fand „so etwas wie eine Orientierung zum kommunistischen Widerstandsgedanken hin [statt]. Im Frühjahr 1945 kehrten sie zurück.“ Diese Orientierung habe die offiziellen Vertreter der jüdischen Gemeinde ihre Geschichte in den Dienst des sozialistischen Staates stellen lassen, womit die vormals zionistischen Aktivitäten immer mehr in den Duktus des antifaschistischen Widerstandes, des Volksbefreiungskampfes und letztlich der Brüderlichkeit und Einheit überführt worden seien. Laut Marija Vulesica stand dies nicht notwendigerweise in einem ideellen Widerspruch zum Vorkriegszionismus, denn im spezifischen jugoslawischen Kontext bedeutete die Hinwendung zum Zionismus „nicht nur die politische Agitation in Richtung Palästina“, sondern „vor allem die Entfaltung eines starken Bekenntnisses zum Jüdischsein.“ Dies erlaubte den jugoslawischen Juden sich einen Platz in der jugoslawischen Gesellschaft zu erringen, trotz der ideologisierten Vorstellung der jugoslawischen Kommunisten über die Nationszugehörigkeit und der daraus resultierenden Nationalitätenpolitik. „Damit machten sich Juden und Jüdinnen auch frei vom Kampf um die Zugehörigkeit zum Kroaten- oder Serbentum, konnten aber das Jugoslawentum als eine Nationsklammer gut akzeptieren.“ Diese zwei Faktoren zusammen trügen zur Herausbildung einer eigenen Deutung der „Vorgeschichte“ des Holocaust jugoslawischer Juden bei – als eine Zeit eines aktiven und (vor allem) bewussten Widerstands. Dementsprechend müsse man sich auch nicht mit dem Vorwurf auseinandersetzen, man hätte nichts gewusst und nichts getan. Trotz zu beklagender eigener Opfer nähmen die jugoslawischen Juden keine Opferhaltung an, im Gegenteil: sie seien Widerstandskämpfer gewesen, so Marija Vulesica.

Die Problematik der Uminterpretation post festum wurde in der Fachsektion anhand unterschiedlicher Fallbeispiele eindrücklich beleuchtet. Interessant ist insbesondere das Facettenreichtum der uminterpretierten Narrative. Während im deutschsprachigen Raum das Narrativ der „Reue und Scham“ und „der offensichtlich falschen Entscheidung gegen die Emigration“ vertraut sein dürfte, gewähren die anderen beiden Fälle interessante Einblicke in Narrative, die in anderen Gesellschaftsformen entstanden (im sozialistischen Rumänien bzw. Israel und im sozialistischen Jugoslawien) und reflektieren die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Dynamiken, denen die Menschen, die die Uminterpretation vornahmen, ausgesetzt waren. Für die deutsche Gesellschaft bietet die Auseinandersetzung mit und Reflexion über unterschiedliche Deutungen der "Vorgeschichte des Holocaust" wichtige und interessante Impulse im Hinblick auf, zum Beispiel, die Tatsache, dass viele Zehntausende ehemals sowjetischer Jüdinnen und Juden seit dem Zusammenbruch der UdSSR dauerhaft nach Deutschland umsiedelten und ihre eigenen Narrative mitbrachten. Das bedeutet keinesfalls, dass die Schoa relativierbar oder eine „Sache der Interpretation“ ist, ganz im Gegenteil. Vielmehr zeigte die Fachsektion, dass unsere Deutungen (auch der „Vorgeschichte des Holocausts“) nicht im luftleeren Raum entstehen. In diesem Sinn kann die Fachsektion auch als Appell an Historiker und Historikerinnen verstanden werden, sich kritisch mit den Grenzen ihrer eigenen Erkenntnisfähigkeit auseinanderzusetzen. In diesem Zusammenhang merkte Marija Vulesica in der anschließenden Diskussionsrunde sehr treffend an: "Wir können nicht so tun, als wüssten wir nicht, was geschehen ist. Wichtig erscheint mir jedoch, sich darüber im Klaren zu sein, die eigene Haltung zu reflektieren und aus unserem historischen Wissen heraus nicht die Zeitgenossinnen und Zeitgenossen zu verurteilen.“

Sektionsübersicht:

Stefanie Schüler-Springorum (Berlin): Sektionsleitung

Anna Ulrich (München) und David Jünger (Brighton/Berlin): Analysen aus dem Exil – Deutsche Juden und der erklärende Blick ‚zurück’

Gaёlle Fisher (München): „Vertrieben aus dem Paradies“ – Überlebende aus der Bukowina und die Erinnerung an die ‚verlorene‘ rumänische Heimat nach 1945

Marija Vulesica (Berlin): „Von Opfern und Helden“ – Jugoslawische Juden und ihr Umgang mit dem Holocaust


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